Probleme

„Vielleicht könnte Kerstin noch leben, wenn der Lkw-Fahrer früher gebremst hätte“, sagt Werner Hartmann. Der 72-Jährige hat seine Tochter bei einem Fahrradunfall verloren. Eine extreme Geschichte, die zeigt, dass der Kölner Radverkehr nicht nur unangenehm ist, sondern auch tödlich sein kann.

Köln ist für Autos gebaut. Das merken Fahrradfahrer jeden Tag auf dem Weg durch die Innenstadt. Wir sind mit dem Kölner Fahrradblogger Marco Laufenberg durch die City gefahren – er erklärt, was ihn besonders stört.


Die meisten Unfälle passieren in Köln am Eifelwall. Welche Straßen und Kreuzungen in Köln noch besonders gefährlich sind, stellt die Karte unten dar. Wenn man die Markierungen mit der Maus anklickt, werden Statistiken zur jeweiligen Unfallstelle angezeigt.


Die 360-Grad- Bilder unten zeigen acht Stellen, an denen es laut Polizei Köln besonders häufig zu
Unfällen kommt. Darunter ist auch die Ecke Universitätsstraße und Gyrhofstraße. Dort sind viele
Studenten mit ihren Fahrrädern unterwegs.

  • Ehrenstraße Ecke Friesenwall, 6 Unfälle (1SV, 5LV)
  • Universitätsstraße Ecke Gyrhofstraße , 5 Unfälle (5 LV)
  • Eifelplatz (Kreisverkehr), 7 Unfälle
  • Neusser Straße Ecke Bergstraße, 4 Unfälle
  • Östliche Zubringerstraße / Deutz-Kalker-Straße Ecke Opladener Straße, (4 Unfälle)

9,6 Sekunden,
die alles verändern










Ein Vater kämpft nach dem Unfalltod seiner Tochter für mehr Sicherheit im Straßenverkehr

Werner Hartmann fährt gerade auf das Autobahnkreuz Wuppertal-Nord, als er die Nachricht im Radio hört: „Bei einem Unfall in Köln-Ehrenfeld ist eine Radfahrerin von einem LKW überfahren und tödlich verletzt worden.“ Hartmann schaltet das Radio ab, er hat auf einmal furchtbare Angst. Er weiß, dass seine Tochter Kerstin an diesem Dienstag, dem 9. April 2013, mit dem Rad in Köln unterwegs ist.
„Als um 20.30 Uhr der Anruf kam, wusste ich eigentlich schon, was los ist“, erinnert sich Hartmann. Später wird er genau erfahren, was passiert ist: Die 29-jährige Unfallchirurgin hat frei und ist mit ihrem Freund zum Kochen verabredet. Sie will noch schnell etwas einkaufen und steigt auf das 28er-Herrenrad, das sie sich von ihrem Vater geliehen hatte. Ein Lkw überholt sie, als sie gerade den Fahrradweg an der Oskar-Jäger-Straße in Ehrenfeld entlang fährt. Kurz vor der Vogelsanger Straße passiert es: Der Fahrer bremst kurz, fährt aber sofort wieder scharf an. Für Kerstin muss es aussehen, als wolle er geradeaus weiterfahren. Doch plötzlich dreht der Laster nach rechts, biegt ab auf das Betriebsgelände von Thyssen Krupp. Genau dahin, wo sich Kerstin mit ihrem Herrenrad befindet.
Die junge Frau versucht noch auszuweichen, hat aber keine Chance. Sie fällt, das rechte Vorderrad des 15-Tonners überrollt ihren Arm. Der Fahrer hört es scheppern, bremst aber nicht. Zumindest nicht schnell genug. Kerstin ist unter seinem Laster, die Hinterachse trifft sie mit voller Wucht am Kopf. Von dem Moment an, als der Lkw-Fahrer abgebogen ist und die Radfahrerin umgestoßen hat, dauert es 9,6 Sekunden, bis die junge Frau stirbt.
9,6 Sekunden, die alles verändern.

Kerstins Vater besteht darauf, dass über den Unfall seiner Tochter als „Tötung“ geschrieben wird. „Damit will ich betonen, dass nichts Natürliches daran war, wie meine Tochter gestorben ist“, sagt er. Der Fahrer des Lastwagens habe Kerstin vor dem Zusammenstoß „fast uneingeschränkt“ im Blick gehabt und trotzdem keine Rücksicht auf die schwächere Verkehrsteilnehmerin genommen. „Vielleicht könnte Kerstin noch leben, wenn der Fahrer früher gebremst hätte“, sagt Hartmann. Er empfindet es als große Ungerechtigkeit, dass das Gericht den Fahrer nur zu sechs Monaten auf Bewährung und einer Geldbuße von 3000 Euro verurteilte. Er durfte sogar seinen Führerschein behalten. Gerne hätte Hartmann persönlich mit dem Fahrer gesprochen. „Ich hätte ihn gefragt, warum er das gemacht hat, warum er nicht aufgepasst hat“, sagt Hartmann. Doch der Mann stand während des Prozesses „extrem neben sich“, erinnert er sich. Sein Anwalt verlas eine Entschuldigung. Der Angeklagte selbst zeigte aber kaum Reaktionen auf das, was da um ihn herum passierte. Hartmann glaubt, dass der Unfallfahrer unter Psychopharmaka stand, um die Situation ertragen zu können.

Schuld am Unfall ist für Hartmann ohnehin nicht nur der Lkw-Fahrer, sondern zu einem großen Teil die Stadt Köln. Sein Vorwurf: Der Fahrradweg, auf dem Kerstin fuhr, hörte damals einfach auf, es gab keine Markierungen auf dem Boden, die gezeigt hätten, dass Radfahrer auf der Straße weiterfahren sollten. Es war zwar ein Verkehrsschild mit dem Hinweis „Radweg Ende“ vorgesehen. Das war aber vor geraumer Zeit umgefahren worden und nicht ersetzt worden.

„Vielleicht könnte Kerstin noch leben, wenn der Lkw-Fahrer früher gebremst hätte“Werner Hartmann

Wegen dieser Zustände hat Werner Hartmann Strafanzeige gegen den damaligen Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) sowie den Leiter des Straßenverkehrsamtes gestellt. Vorwurf: Verletzung der Verkehrssicherungspflicht. Außerdem hat er den damaligen Dezernatsleiter der Polizeiinspektion 3 wegen Verleumdung angezeigt. Der hatte Journalisten erzählt, dass Kerstin eine Mitschuld trage, obwohl dies eindeutig nicht der Fall war. Doch auch wenn all seine Klagen erfolgreich wären – der 71-jährige wirkt nicht wie jemand, der mit dieser Tragödie jemals seinen Frieden machen könnte. Selbst seine Familie hat sich schon von ihm abgewandt, weil sie das schmerzhafte Kapitel endlich abschließen will. Der Kampf ist für Kerstins Vater zur Lebensaufgabe geworden. Wenn er über die Stadtverwaltung spricht, wird Hartmanns ganze Wut spürbar: Seine Fäuste ballen sich, ohne dass er es merkt, seine Lippen werden zu schmalen Strichen, und aus seinen Augen blitzt es, wenn er über die Gläser der rechteckigen Lesebrille hinweg funkelt. Seine Worte sind oft bitter sarkastisch gemeint. Doch wenn es um seine Tochter geht, stockt er, hat einen Kloß im Hals. Kerstin hat ihn sehr stolz gemacht. „Kerstin war ein Mensch, der sich immer für andere eingesetzt hat“, sagt Hartmann. Deshalb habe sie auch Ärztin werden wollen. Ihr Medizinstudium schloss sie mit der Note 1,0 ab, war inzwischen in ihrem dritten Assistenzjahr an der Uni-Klinik. Sie wollte heiraten und wünschte sich Kinder.

Um Kraft zu schöpfen, besucht Hartmann die Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“. Dort kann er mit anderen Menschen sprechen, die ihre Kinder verloren haben. Auch mit fast 72 Jahren arbeitet er noch als Malermeister, um die laufenden Prozesskosten bezahlen zu können.
Mit öffentlichen Aktionen will er auf eine aus seiner Sicht untragbare Situation hinweisen. Er gibt Fernseh-Interviews und wendet sich immer wieder an die Presse. Mit Unterstützung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) hat er an der Unfallstelle ein „Geisterrad“ aufgestellt. Diese weißen Fahrräder sollen an Verkehrstote erinnern. Auf den Lenker ist eine Tafel montiert, die den Unfallablauf sekundengenau schildert. Bei einer groß angelegten Radtour des ADFC durch Köln, dem „Ride of Silence“, fuhr Hartmann im Jahr 2014 im Auto vorneweg, auf dem Anhänger hatte er Kerstins altes Rad aufgebaut, ebenfalls weiß gestrichen.
Er will weitere Tragödien verhindern. „Lkw-Fahrer verhalten sich oft so, als würden sie einen Pkw fahren“, sagt Hartmann. Deshalb unterstützt er den ADFC , der Fahrassistenzsysteme für Lkw zur Pflicht machen will. Systeme etwa, die selbstständig bremsen. Oder Sensoren, die beim Öffnen der Tür vor nahenden Radfahrern und Fußgängern warnen. Müssten Laster schon heute derartig ausgestattet sein, davon ist Hartmann überzeugt, hätte die Bundesregierung das Ziel ihres „Verkehrssicherungsprogramms“ längst erreicht, die Zahl der Verkehrstoten um 40 Prozent zu senken.
Von den Kommunen fordert der verwaiste Vater ebenfalls mehr Schutzeinrichtungen, Ampelanlagen mit Spiegeln etwa. „Solche Maßnahmen sind denen aber zu teuer.“
In der Oskar-Jäger-Straße hat die Stadt übrigens einige Tage nach dem Unfall ein neues Schild aufgestellt. Auch die rote Radwegemarkierung ist jetzt auf die Straße verlängert. Das neue Verkehrsschild hat inzwischen aber schon wieder jemand umgefahren.

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